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Eigenspannungen

Eigenspannungen gelten bei mechanisch belasteten Bauteilen als lebensdauerbestimmende Eigenschaft. Das Vorliegen eines bestimmten Eigenspannungszustands kann beispielsweise bei wechselbelasteten Bauteilen die ertragbare Lastspielzahl deutlich erhöhen oder auch die ertragbare Lastamplitude in wesentlich größere Bereiche verschieben. Ungünstige Eigenspannungszustände können auf der anderen Seite dazu führen, dass ein Bauteil nach unerwartet kurzer Zeit im Einsatz versagt. Es lohnt sich daher auf jeden Fall, sich mit dem Thema Eigenspannungen zu befassen: was sind Eigenspannungen, wie entstehen sie, wie wirken sie im Bauteil und wie können sie gegebenenfalls gezielt beeinflusst werden, und wie werden sie zuverlässig bestimmt?

Definition [BRE11]

Der Begriff „Spannung“ geht zurück auf den französischen Mathematiker A. L. Cauchy (1789-1857). Eine Spannung bezeichnet die Kraft, die auf eine bestimmte Fläche eines Körpers wirkt. Die physikalische Einheit hierfür ist das Pascal (1 Pa = 1 N/m²). Starke Spannungen werden in Megapascal angegeben (1 MPa = 1 N/mm²). Spannungen sind Kraftgrößen und ein Maß für die Beanspruchung eines Körpers. Der Körper reagiert auf die Beanspruchung mit einer Verformung. Es besteht ein werkstoffabhängiger Zusammenhang zwischen den Spannungen und den Verformungen eines Körpers.

Die so definierten Spannungen entstehen beim Anliegen einer äußeren Last am Werkstück. Von diesen Lastspannungen unterscheidet man die so genannten Eigenspannungen. Als solche bezeichnet man die Spannungen in einem Werkstück ohne Anliegen äußerer Kräfte und Momente und ohne Vorliegen eines Temperaturgradienten. Es wird unterschieden zwischen Eigenspannungen I., II. und III. Art (σl, σll, σIII). Eigenspannungen I. Art liegen makroskopisch in großen Probenbereichen vor, Eigenspannungen II. Art innerhalb weniger benachbarter Körner, und Eigenspannungen III. Art bezeichnen Gitterbaufehler wie Versetzungen oder Fehlstellen innerhalb eines einzelnen Korns. Als lebensdauerbestimmende Werkstü-ckeigenschaft sollen im Folgenden Eigenspannungen I. Art betrachtet werden.

Die Spannung ist ein Vektor, der in eine Normalkomponente und eine Tangentialkomponente zerlegt werden kann. Die Normalkomponente heißt Normalspannung, die Tangentialkomponente Schubspannung. Die Spannungskomponenten sind von der Blickrichtung abhängig, aus der die Spannung betrachtet wird. Daher ist der Spannungszustand eines Punktes P durch drei Spannungsvektoren in drei senkrecht aufeinander stehenden Flächen eindeutig zu beschreiben (Bild 1).

Entstehung von Eigenspannungen

Voraussetzung für das Entstehen von Eigenspannungen ist ein (lokales) Fließen von Werkstoff, also eine plastische Verformung. Liegt nach einer solchen Verformung keine Last mehr an, ist das Material bestrebt, seine ursprüngliche Form wieder einzunehmen, was aber aufgrund ebendieser Verformung nicht möglich ist. Zurück bleiben Spannungen, bei denen es sich per Definition um Eigenspannungen handelt. Aufgrund der Art der plastischen Verformung können jetzt zwei Szenarien betrachtet werden: Wurde das Material plastisch gedehnt, ist es bestrebt, ein kleineres Volumen einzunehmen (was aber aufgrund des Fließens nicht möglich ist), und es entstehen Zugeigenspannungen. Wurde das Material plastisch gestaucht, entstehen Druckeigenspannungen. Bei der Quantifizierung sind diese beiden Zustände durch ein Minuszeichen, welches Druckeigenspannungen kennzeichnet, zu unterscheiden.

Bei der Oberflächenbearbeitung beispielsweise durch spanende Verfahren entstehen lokale plastische Verformungen durch die mechanische Last auf das Bauteil, gleichzeitig entstehen plastische Verformungen durch lokale Temperaturerhöhung (thermische Last). Beide oben beschriebenen Szenarien überlagern sich also, so dass es sowohl zur Entstehung von Druck- (mechanische Last) als auch von Zugeigenspannungen (thermische Last) kommt. Die exakten mathematischen Zusammenhänge dieser Überlagerung sind noch nicht vollständig entschlüsselt. Der nach der Bearbeitung vorliegende Eigenspannungszustand ist darüber hinaus stark werkstoffabhängig. Grundsätzlich aber gilt: Herrscht während des Bearbeitungsprozesses die thermische Last vor, liegen final eher Zugeigenspannungen vor, herrscht die mechanische Last vor, führt dies zu eher Druckeigenspannungen.

Wirkung von Eigenspannungen im Bauteil

Kritische Lastfälle für ein Bauteil entstehen am Ehesten durch Zugbelastung. Die ertragbare Zuglast ist durch die Zugfestigkeit des Werkstoffs definiert. Je mehr sich die Belastung dieser Zugfestigkeit annähert, desto höher ist die Gefahr einer Rissbildung und -ausbreitung, was schließlich zum Versagen des Bauteils führt. Liegen in einem Bauteil Eigenspannungen vor, kommt es im Einsatz zu einer Überlagerung von Eigen- und Lastspannungen. Das bedeutet, beim Vorliegen von Druckeigenspannungen im Bauteil erhöht sich die ertragbare Last oder die Anzahl der Lastwechsel, beim Vorliegen von Zugeigenspannungen wird sie reduziert. Für ein zug- oder wechsellastbeanspruchtes Bauteil ist also das Vorliegen von (fertigungsbedingten) Druckeigenspannungen erstrebenswert.

Gezielte Beeinflussung von Eigenspannungen

Die Betrachtung der Lastfälle und die Erfahrung bei der spanenden Bearbeitung von Bauteilen zeigt, dass es ausreicht, einen zweiachsigen Spannungszustand zu berücksichtigen, und zwar den oberflächenparallelen. Die Eigenspannungen in Richtung der Tiefe des Bauteils können vernachlässigt werden. Mithilfe unterschiedlicher Verfahren ist es möglich, oberflächennahe und oberflächenparallele Eigenspannungen in unterschiedlichen Azimutrichtungen zu bestimmen. Es hat sich allerdings gezeigt, dass dies häufig nicht ausreicht, um das Einsatzverhalten oder die Lebensdauer eines Bauteils vorherzusagen. Hierzu ist es erforderlich, die Änderungen dieser oberflächenparallelen Eigenspannungen in die Tiefe des Bauteils zu kennen. Über eine Variation des Anteils der thermischen und der mechanischen Belastung während des Zerspanprozesses (durch Änderung der Stellgrößen, durch Werkzeugauswahl, durch Einsatz von Kühlschmierstoff usw.) ist es möglich, den sogenannten Eigenspannungstiefenverlauf innerhalb eines gewissen Fensters zu variieren.

Bei einigen Prozessen, wie z. B. der Bearbeitung gehärteter Stähle mit geometrisch bestimmten Schneiden (Hartbearbeitung), gelingt es nicht, im oberflächennahen Bereich ausreichend starke Druckeigenspannungen einzustellen. Hier ist es erforderlich, einen zusätzlichen Nachbehandlungsprozess einzusetzen, der durch eine reich mechanische Belastung des Bauteils ohne thermische Last in der Lage ist, die vorhandenen Zugeigenspannungen in Druckeigenspannungen umzuwandeln, oder die vorhandenen leichten Druckeigenspannungen auf ein ausreichend hohes Niveau zu bringen.

Solche Nachbehandlungsprozesse sind beispielsweise Festwalz-, Hämmer- oder Strahlprozesse. Hierdurch lassen sich in den meisten Fällen lebensdauersteigernde Eigenspannungszustände einstellen (Bild 2). Ein weiterer positiver Effekt von Nachbehandlungsverfahren ist das Glätten der Oberfläche, was letztendlich die Gefahr kritischer Eigenspannungen durch die Kerbwirkung minimiert [Bild 3].

Bestimmen von Eigenspannungen [BRE11]

Eigenspannungen an vielkristallinen Werkstoffen lassen sich mit einer Reihe von Verfahren bestimmen, die auf unterschiedlichen physikalischen Prinzipien beruhen. Die Messverfahren lassen sich nach verschiedenen Kriterien einteilen, z. B. in direkte und indirekte Methoden oder in zerstörende und zerstörungsfreie Methoden [TÖN65, BRE11].

Bei den indirekten Methoden werden Teile des zu untersuchenden Körpers abgetrennt. Das kann in der Praxis eine kleine Bohrung sein oder aber eine ganze Schicht, die vom Material abgetrennt wird. Die hierdurch entstandene Verformung des Körpers wird mittels sensitiver Verfahren gemessen (z. B. Deh-nungsmessstreifen, optische Interferenz). Aus dieser Verformung kann der Eigenspannungszustand des Körpers berechnet werden.

Bei den direkten Methoden wird die Verzerrung des kristallinen Gitters gemessen. Die wichtigsten Methoden und auch die am weitesten verbreiteten basieren hierbei auf der Beugung von Röntgenstrahlen am Kristallgitter. Das weltweit am häufigsten eingesetzte Verfahren zur Bestimmung von Eigenspannungen ist die röntgenographische sin2-ψ-Methode [MAC61]. Mit ihr können Eigenspannungen an nahezu allen vielkristallinen Werkstoffen (glatte, möglichst ebene Oberfläche, Korngröße möglichst im einstelligen µm-Bereich) zerstörungsfrei bestimmt werden.

Durch Messen der oberflächenparallelen Eigenspannungen in mehreren Richtungen kann sogar der Ei-genspannungstensor bestimmt werden. Um die Entwicklung der oberflächenparallelen Eigenspannungen in die Tiefe zu bestimmen, ist es allerdings erforderlich, sukzessive Material abzutragen und wiederholt Eigenspannungen zu messen, da die Informationstiefe der Röntgenstrahlen im Material nur einige µm beträgt. Die Fläche, in der Material abgetragen wird, soll natürlich möglichst klein sein, und die für den Abtrag eingesetzten Verfahren sollen keine thermische und keine mechanische Last auf das Bauteil ausüben. Üblicherweise werden für diesen Vorgang elektrolytische Polierverfahren angewandt, bei denen schrittweise auf einer Fläche < 1 cm² Material entfernt wird. Durch Eigenspannungsmessungen in definierten Tiefen können mit diesem Verfahren Eigenspannungstiefenverläufe, wie in Bild 2 dargestellt, bestimmt werden.

 

Literatur

[BRE11] Breidenstein, B.: Oberflächen und Randzonen hoch belasteter Bauteile. Habilitations-schrift Leibniz Universität Hannover (2011), Verlag PZH Produktionstechnisches Zentrum GmbH, Garbsen, ISBN: 978-3-943104-31-8

[MAC61] Macherauch, E.; Müller, P.: Das sin2y-Verfahren der röntgenographischen Spannungs-messung. Zeitschrift für angewandte Physik 13, 7, (1961), 305-312

[MAI19] Maiß, O.: Lebensdauererhöhung von Wälzlagern durch mechanische Bearbeitung. Dr.-Ing. Dissertation Leibniz Universität Hannover (2019), TEWISS Verlag, Garbsen, ISBN: 978-3-95900-251-6

[TÖN65] Tönshoff, H. K.: Eigenspannungen und plastische Verformungen im Werkstück durch spanende Bearbeitung. Dr.-Ing. Dissertation Technische Hochschule Hannover (1965)